Marina Gschwind Grieder

Alles ist Samenkorn


Ein Inteview über mein Leben: 


Das Leben als permanente Reise
von Stefanie Wolff-Heinze

„So richtig verstanden habe ich meinen Schicksalsweg eigentlich erst mit 60 Jahren“, resümiert Marina Gschwind Grieder mit einem Lachen ihre bisherige Lebensreise. Kein Wunder – denkt man als Betrachter ihrer aussergewöhnlichen Vita –, denn in den Jahrzehnten zuvor liessen ihre grosse Familie mit fünf eigenen und drei angenommenen Kindern, die vielfältigen Aufgaben als Organistin, Mutter, Bäuerin und Priesterin sowie die zu bewältigenden Übergänge auch kaum Zeit zum Nachdenken. Doch Stillstand kommt für sie auch mit fast 70 Jahren nicht infrage: Mit Hingabe und Enthusiasmus kümmert sie sich heute um den Aufbau der Christengemeinschaft in Graubünden sowie in Krakau und an anderen Orten in Polen. „Mein Leben ist wie eine permanente Reise und ich bin ausgesprochen gerne unterwegs.“

 

Marina Gschwind Grieder erblickt am Weihnachtstag 1942 das Licht der Welt. Die Mutter stammt aus einer Glarner Hoteliersfamilie, die in Konstanz ein grosses Hotel betrieb, der Vater hat spanische Wurzeln und arbeitete u.a. als Diplomat. Vor allem väterlicherseits werden Marina und ihre beiden älteren Geschwister in einer freien, aber strengen Weise erzogen; ihre Mutter versucht, mit Güte und Humor die patriarchalische Autorität zu mildern. 

 

Nach der Dorf-Schule in Zumikon und dem anschliessenden Besuch eines Mädchenpensionats in Fribourg, das von französischen Dominikanerinnen geführt wird, zieht es „das verträumte Kind Marina“ – so beschreibt sie sich selbst – zunächst ins Kloster. Sie hat jedoch das Glück, dass ihre geliebte Lehrerin und Oberin ihr eindringlich von diesem Schritt abrät. Es folgen zwei Jahre Orgel-Ausbildung an der Musikakademie Zürich und kurz danach im Frühjahr 1964 die Hochzeit mit dem fast 15 Jahre älteren Peter Grieder. Die beiden kennen sich seit Kindesbeinen an, sind sie doch in Zumikon in direkter Nachbarschaft aufgewachsen. Durch ihren Ehemann lernt sie den Hinduismus und Buddhismus kennen und betreibt zusammen mit ihm intensiv Yoga bei Selvarajan Yesudian – eine wichtige Wende im religiösen Leben ihrer jungen, suchenden Seele.

   

Die nächsten 25 Jahre – so fasst es Marina Gschwind Grieder im Rückblick zusammen – erfüllt sie das Schicksal ihrer Grossfamilie, die insgesamt fünf eigene Kinder und drei Pflegekinder umfasst. Sie ist gerade 22 Jahre alt, als mit Tochter Daniela das erste Kind zur Welt kommt; in den darauffolgenden zehn Jahren schenkt sie drei Buben und einem weiteren Mädchen das Leben. Zudem nehmen sie und ihr Mann zwei tibetische Flüchtlingskinder sowie ein deutsches Pflegekind auf. 

 

Doch so richtig turbulent wird das Familienleben, als Marina Gschwind Grieder beschliesst, dass das Haus in Pfaffhausen für die Kinder, ihre Hundezucht sowie die Island-Ponys zu klein wird. Man zügelt ins Zürcher Oberland auf einen Bauernhof. Ihr Mann hat in der Zwischenzeit das Familienunternehmen verkauft und ist als Kurator des Tibet-Instituts in Rikon tätig. 

Zudem engagiert sich das Ehepaar Grieder für die Gründung der Rudolf Steiner Schule Zürcher Oberland in Wetzikon. Nach einer Zeit der Kleintierhaltung auf dem Hof widmet sich Marina Gschwind Grieder zusammen mit ihrer Freundin Krista Braun, welche auch fünf Kinder hat, intensiv der Demeter Landwirtschaft. Innerhalb eines Jahres erweitern die beiden Frauen den „Triemenhof“ um Milchkühe, Ziegen, Schafe, Schweine, Federvieh, Bienen und u.a. mit dem Anbau von Getreide. Gearbeitet wird mit Pferden und einfachen Maschinen.

 

Es waren grossartige und erfüllte, aber zugleich kräftezehrende Jahre, die ihre Spuren hinterlassen. Und so interpretiert Marina Gschwind Grieder einen schweren Unfall, bei dem sie 1986 auf ihrem Bauernhof unter einen Pferdewagen gerät, als unübersehbares Zeichen, dass sie ihr Leben verändern muss: Nach 25 Jahren lassen sich die Eheleute Grieder im Einvernehmen scheiden. Sie knüpft über ihre schon längere Tätigkeit als Organistin in der Gemeinde in Zürich erneut Kontakt zur Christengemeinschaft, trennt sich von allen Bindungen auf dem Hof und übergibt ihn einem jungen Bauern; dieser bewirtschaftet ihn als Pächter einer Stiftung, die von Peter Grieder initiiert worden war. 

 

Abschied und Aufbruch in dieser Lebensphase lassen sie wieder den Wunsch ihrer Jugend verspüren, „ganz und gar ins Religiöse hinein zu tauchen“.  Und diesmal wird die Sehnsucht wahr: Marina Gschwind Grieder darf sich am Priesterseminar in Stuttgart einschreiben und wird nach „wunderbaren Studienjahren der seelisch-geistigen Arbeit“ schliesslich mit 50 Jahren zur Priesterin der Christengemeinschaft geweiht. 11 Jahre lang arbeitet sie dann in unterschiedlichen Gemeinden in St. Gallen, Bremen und Cuxhaven, bevor sie in die Schweiz zurückkehrt. Seit 2004 ist sie nun als Pfarrerin und Priesterin in Graubünden tätig und kümmert sich zudem um den Aufbau der Christengemeinschaft in Polen. Doch nicht nur in religiöser Hinsicht fügt sich ein in der Jugend geknüpftes Band wieder zusammen: 1998 gibt sie Peter Grieder zu seinem 70. Geburtstag erneut das Ja-Wort, bleibt aber ihrer neuen Berufung als Priesterin der Christengemeinschaft treu.
  

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(Infokasten) Die Christengemeinschaft wurde 1922 durch den evangelischen Pfarrer Friedrich Rittelmeyer, Johannes Werner Klein sowie die Theologin Gertrud Spoerri zusammen mit 45 evangelischen Theologen und Rudolf Steiner als Berater gegründet. Man wollte sich damals nicht von der bestehenden christlichen Kirche abspalten, sondern vielmehr eine erneuerte Form des Kultus erschaffen. Die Christengemeinschaft ist keineswegs eine „Anthroposophenkirche“ – wie häufig angenommen wird –,  aber die einzige christliche Gemeinschaft, die die Anthroposophie Rudolf Steiners anerkennt. Das Priesteramt steht sowohl Männern als auch Frauen offen und ist – im Gegensatz zur Römisch-Katholischen Kirche – mit einer Eheschliessung vereinbar. __________________________________________________________________________________

 

Frau Gschwind Grieder, wenn man von aussen auf Ihr Leben blickt, gerät man angesichts der Fülle an Menschen, Aufgaben und unterschiedlichen Lebenssituationen sehr ins Staunen. Wie sieht denn Ihre eigene Zwischenbilanz aus?

Ich habe auch das Gefühl, viele Leben gelebt zu haben. Mein Lebenslauf ist eigentlich eine permanente Reise und ich bin ausgesprochen gerne unterwegs. Doch zugleich muss man immer wissen, wo man innerlich steht und bei sich sein. Im Rückblick hat das Schicksal für mich stets das Richtige hervorgebracht.

Gibt es ein Leitmotiv, das über all den Ereignissen in Ihrem Leben steht?
Was mich immer begleitet hat, war das Zweierbild „Die Natur und das Religiöse“. Oder anders gesagt,  die Liebe zur Erde und die Liebe zum Göttlichen. Es gab stets eine tiefe Sehnsucht in mir, diese beiden Elemente in meinem Tätig-Sein zu vereinen. Und diesen Wunsch kann ich durch meine Aufgabe als Priesterin der Christengemeinde in Graubünden wunderbar realisieren. 

Das Religiöse hat ja bereits in Ihrer Jugend eine grosse Rolle gespielt.
Richtig, aber damals war ich noch nicht bereit für ein Klosterleben. Und ich bin der Oberin, die mir  davon abgeraten hatte, heute noch sehr dankbar. Sie erkannte mein Wesen wohl sehr gut, denn ich wäre sicherlich ausgebrochen aus der klösterlichen Enge und hätte meine Freiheit in der Natur wiederhaben wollen. Mit 50 Jahren jedoch konnte ich mich aus freien Stücken für das erneuerte Priestertum entscheiden, obwohl damit auch die „Entsendung“ verbunden ist. Aber die wirkliche Freiheit entsteht in deinem Inneren. Und daher kann auch alles, was dich bindet, frei machen – wenn du diese Bindung aushältst.

Der Unfall mit 46 Jahren war ja wie ein Wendepunkt, der Ihr Leben in zwei Abschnitte teilt: Die Zeit vor dem Unfall, die vor allem durch die Familie und die Landwirtschaft geprägt war, sowie die Phase nach dem Unfall, in der die Hingabe zur Religion im Vordergrund steht.
Die Sehnsucht nach der Natur und der Zweisamkeit mit ihr, war schon immer ein wichtiger Faktor in meinem Leben. Ich hatte zum Triemenhof, den wir nach den Prinzipien der biologisch dynamischen Landwirtschaft über 15 Jahre aufgebaut und betrieben haben, eine tiefe Verbindung. Und letztlich hat mich die Demeter Landwirtschaft ja auch zur Anthroposophie geführt, die für mich sehr stark mit der Erde verbunden ist. Dem Christlichen hatte ich mich schon in der Zeit vor dem Unfall wieder zugewandt, weil ich in den Jahren mit meinem Mann erfahren habe, dass der Buddhisumus nur ein Übergang zum Christentum sein kann. Christus hat die Lehre Buddhas in die Tat umgesetzt und sich mit der Erde und dem Menschen endgültig verbunden. Den östlichen Religionen fehlt diese Tat am Kreuz, die wir als Menschen heute tagtäglich mit Christus neu vollziehen. Aber der Unfall – bildlich gesehen der Fall auf die Erde – hat sicherlich die Entscheidung für einen neuen Weg eröffnet. Es war für mich eine neue Geburt und so feiere ich insgeheim den 12. September 1986 als meinen zweiten Geburtstag. 

Haben Sie gespürt, dass sie auf einen Wendepunkt zusteuern?
Ich fühlte mich damals wie in einer Spirale, die nach unten und innen führt. Es war eine Zeit der Suche, der Verunsicherung und der Orientierungslosigkeit. Meine Ehe sowie meine Freundschaft zu Krista Braun gerieten in eine Krise, ich war auch körperlich instabil und zu anfällig für manipulierende Einflüsse von aussen. Wichtige Stützen waren damals die Biographiearbeit und intensive Gespräche mit der Priesterin der Christengemeinschaft in Zürich. Sie hat meine Schicksalsführung klarer gesehen als ich selbst. Der Unfall war aus meiner Sicht Schicksal plus das Wirken äusserer Umstände, die dann zu diesem Ereignis geführt haben.

Ihr Leben enthält aber nicht nur Übergänge, sondern auch einige Kreise, die sich wieder geschlossen haben…
…daher würde ich diesen Unfall auch als Spiegelung sehen und nicht nur als Wendepunkt. Denn ich hatte mit 50 Jahren nochmals die Chance, mich auf ein „zeitgenössisches Klosterleben“ einzulassen, zu dem ich mit 19 nicht bereit war. Ich habe den Mann, von dem ich mich damals trennte, nochmals geheiratet. Und ich habe nach dem Abschied vom Triemenhof jetzt in Graubünden und auch in Osteuropa, wo ich eine neu zu bildende Christengemeinschaft mitbetreue, wieder die Möglichkeit „Natur und Religiosität“ in meinem Leben zu vereinen.  

Was bedeutet für Sie der Begriff „Übergang“? Wie haben Sie solche Phasen des Abschieds und Neubeginns erlebt? 
Das typische Symbol für den Übergang ist für mich der Regenbogen, der aus dem Zusammentreffen von Sonne, Luft und Wasser entsteht – eine Brücke aus wunderbaren Farben. Und wenn Übergänge stattfinden, dann leuchten Sonne und Licht voran. Man sieht also bereits etwas viel Schöneres und Wunderbareres, so dass man das Bisherige leichter loslassen kann. Meinen Bauernhof beispielsweise hätte ich niemals loslassen können, denn er war mein Lebensexilier. Es war ein wunderbarer Ort, es war ein üppiges Leben, aber das musste vorbeigehen. 

Etwas vergeht, damit Neues entsteht…
Richtig. Aber man kann das Neue immer nur erahnen und nicht „erkaufen“, in dem man einfach den Schmerz erduldet und dann wie selbstverständlich eine Belohnung erwartet. Es gibt meiner Überzeugung nach im Übergang immer eine Bruchstelle. Und das ist quasi der Todesmoment, wo du keine Gewähr hast, ob es weitergeht oder nicht. Es ist dieser dunkle Todesmoment, wo man furchtbar einsam und ganz allein auf sich gestellt ist.

Braucht es denn immer ein einschneidendes Ereignis, damit der Mensch für den Übergang und für das Loslassen bereit ist?
Ich betrachte unser Schicksal als grosses Kunstwerk, das wir einerseits bewusst steuern, in dem wir Impulse setzen, und das wir jederzeit durch unser Bewusstsein verändern können. Und andererseits gibt es das Karma, auf das wir keinen Einfluss haben. Und je älter man wird, desto mehr erkennt man die Bedeutung von solchen Ereignissen. Und es wird mir immer bewusster, „dass die Ursache in der Zukunft liegt“ – ein Zitat von Josef Beuys, das mir sehr viel bedeutet.

Das typische Wesen des Übergangs ist für mich der Christophorus, der das Christuskind über den Fluss trägt. Daher hat ja auch der Fährmann so eine spezielle Bedeutung, denn er bringt einen von Ufer zu Ufer. Ich bin ja auch selbst der Fährmann, der das Kind auf den Schultern bzw. im Herzen trägt. Also baue ich selbst Übergänge und Brücken ans neue Ufer.  

Dem Fährmann ist man aber immer auch ausgeliefert, dass er einen heil rüberbringt. 
Ja, es gibt bei Übergängen den Moment, wo man haltlos und ausgeliefert ist. Und man muss diese Haltlosigkeit aushalten. Nur dann kann man auch eine Entwicklung durchmachen. Übergänge und Entwicklung sind somit immer eng miteinander verknüpft. Übergänge sind der Ort der Verwandlung oder der Wandlung, wie sie am Altar zelebriert werden.

Viele Menschen sind nicht bereit, sich für solche Entwicklungen von Liebgewonnenem zu lösen; sie möchten eher von der geleisteten Aufbauarbeit profitieren. Ihnen scheint es da anders zu gehen…
Ich bin der Typ, der aufbaut und das Projekt dann verlässt, wenn es läuft. Aber eigentlich sollte ich als Priesterin auch etwaspflegen können. Ich muss also in meinem Leben noch lernen, zu bleiben! Im Rückblick war jeder Weg, den ich gegangen bin, wert- und sinnvoll – auch wenn es durchaus schmerzhafte Momente gab. Hier in Ardez im Unterengadin glaube ich, eine gewisse Ruhe im äusseren wie im inneren Leben gefunden zu haben. 

 

(Zitatkasten im Text) 
„Da wo meine Füsse stehen ist meine Heimat. Mein Leben ist eine spannende Werkstatt. Ein neues Blatt meiner Geschichte wendet sich. Ich ziehe um. Warum? Frage nicht nach der Ursache, denn die Ursache liegt in der Zukunft.“